TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 27. Juli 2017 von Max Strozzi „Freie Fahrt in die Sackgasse“
26.07.2017, 22:00 | OTS0138 | Tiroler Tageszeitung
TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 27. Juli 2017 von Max Strozzi „Freie Fahrt in die Sackgasse“
Innsbruck (OTS) – Abgasmanipulation, kolportierte Absprachen und die Politik am Beifahrersitz – die deutsche Autoindustrie steckt im Skandalsumpf fest und bremst sich selbst aus. Autokonzernen wurde jahrelang freie Fahrt gewährt, das rächt sich nun.
Verdächtig ruhig verhalten sich die deutschen Autokonzerne. Kein Mucks zum mutmaßlichen Autokartell, das sich zu einem der größten Wirtschaftsskandale auswachsen könnte. Seit der Spiegel enthüllt hat, dass sich die fünf bedeutendsten deutschen Autobauer VW, Mercedes, BMW, Porsche und Audi seit den 1990er-Jahren in vielen Bereichen – von technischen Details über Diesel-Abgastechnologie bis zur Auswahl von Lieferanten – abgesprochen haben sollen, sind die PS-Giganten auf Tauchstation. Verdächtig zurückhaltend verhält sich auch die deutsche Spitzenpolitik. Besonders Verkehrsminister Dobrindt wird nicht zuletzt seit dem Abgasskandal vorgeworfen, die Autoindustrie geschont und vor strengeren Regeln und Konsequenzen verschont zu haben. Der Wirtschaftsmotor wird ungern angetastet. Freie Fahrt für die Autoindustrie, die mit Hunderttausenden Jobs winken kann, wenn ihr die Fahrtrichtung nicht gefällt. Dieser Selbstschutz funktioniert prächtig, kann aber rasch in die Sackgasse führen. Treffen die jüngsten Absprachevorwürfe zu, hat die Leitbranche über Jahre hinweg den Wettbewerb ausgehebelt, um Milliardengewinne einzufahren. Zulasten der Autofahrer, die Zigtausende Euro für ein Fahrzeug zahlen, das ohnehin nach einigen Jahren ersetzt wird und das billiger und besser hätte sein können, wären die Marktregeln nicht außer Kraft gesetzt. Mutmaßliche Klüngeleien, Abgasskandal und die schützende Hand der Politik zum Wohle der Dieselmotoren und zur vermeintlichen Sicherung von Arbeitsplätzen drohen die deutschen Autoriesen auszubremsen. Im Bereich der Elektromobilität etwa gelten die deutschen Branchengrößen nicht gerade als Vorreiter. Zwar ist auch der tatsächliche Öko-Abdruck der E-Autos umstritten, aber der technologische Wandel schreitet angesichts von Klimaabkommen und Luftverpestung voran. Denn alle Maßnahmen gegen Luftverschmutzung können nicht greifen, wenn abgasmanipulierte Autos im Labor zwar grün sind, auf der Straße aber ein Mehrfaches der Grenzwerte ausstoßen. Deutsche Städte drohen bereits mit Dieselverbot. Abgasmanipulation und der mutmaßliche Kartellskandal haben ein System des Wegschauens, des Zudeckens, des fehlenden Unrechtsbewusstseins und der Überheblichkeit aufgezeigt. Man hat sich eine „Uns-kann-keiner-was-anhaben“-Mentalität angeeignet, die auch durch die Politik am Beifahrersitz mitgezüchtet wurde. Ein solches System schützt letztlich aber keine Arbeitsplätze, sondern gefährdet sie.
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